Denkst Du noch, ohne Glauben denken zu können?

Werner Stahel, em. Prof. am Seminar für Statistik, ETH

Man kennt den Spruch "Glaubst Du noch oder denkst Du schon?"

Die Freidenker haben ihn vor Jahren durch eine Plakataktion verbreitet. Widerspricht Glauben dem Denken? Ist Glauben also unvernünftig? Für einen rational Denkenden undenkbar?

Ich will das Gegenteil nachweisen: Wer klar denkt, merkt, dass es ohne Glauben nicht geht, ja, dass Denken zum Glauben führt.

Denken beruht auf geglaubten Voraussetzungen

Wenn man über das Denken nachdenkt, wird rasch klar, dass es auf Grundannahmen beruht, die man nicht beweisen kann.

Mit Denken versuchen wir ja, die Wirklichkeit zu erfassen. Da wird vorausgesetzt, dass es diese Wirklichkeit gibt. Nun, das ist ja unsere Erfahrung! Aber die Erfahrung zeigt nicht allen die Wirklichkeit auf gleiche Weise. Zu Ende gedacht, hat jeder seine eigene Wirklichkeit. (Diese Einsicht läuft unter dem Begriff Konstruktivismus.)

Unser Denken ist davon abhängig, dass wir es in Worte fassen können. Vielleicht gibt es auch ein Denken, das vor den Worten kommt, aber ohne Worte bliebe das sehr beschränkt, wir denken ja in Worten, auch wenn wir nicht im Gespräch sind. Das Denken ist also stark von der Sprache geprägt. Und natürlich noch umfassender von der Kultur, in der wir aufgewachsen sind und in der wir uns bewegen. Denken ist also nicht objektiv.

Es macht sicher Sinn, und es ist faszinierend, zu versuchen, diese Vor-Prägungen unseres Denkens zu überschreiten, dem Denken möglichst keine Grenzen zu setzen. Aber jetzt sind wir schon bei Begriffen, die nicht aus dem rationalen Denken stammen: "Sinn", "faszinierend".

Weltbild

Wir nehmen die Welt wahr und bauen daraus ein Weltbild, auf dem unsere Lebensführung beruht. Viele wollen dieses Weltbild auf das einschränken, was sie als bewiesen erachten, und eben keine unvernünftigen Glaubenssätze einbeziehen. Mindestens für Akademiker steht im Vordergrund, dass ihre Sicht dem entspricht, was wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Das "kanonische" Weltbild, das auf dem Urknall, der Evolutionstheorie und der Hirnforschung beruht, beschreibt die Realität als Folge von Naturgesetzen und des "blinden Zufalls".

Für wichtige Bereiche meines Lebens gibt dieses Weltbild aber wenig her. Über Schönheit, zum Beispiel in der Musik, kann man zwar auch wissenschaftliche Aussagen machen, aber mein Empfinden will ich da nicht nach solchen Erkenntnissen ausrichten. Noch wichtiger sind mir die Beziehungen zu den Menschen, die mir nahe stehen, und auch hier will ich den empirischen Untersuchungen der Psychologie keine Priorität einräumen. Liebe ist nicht primär ein Gegenstand für objektive Erkenntnis, sondern eine tiefgreifende Erfahrung.

Bedeutung

In den wichtigsten Themen meines Lebens geht es nicht um ein wissenschaftliches Weltbild, sondern darum, welche Bedeutung das, was ich erfahre, für mein Leben hat. Sie ist grundlegend für die Entscheidungen, die ich für die Gestaltung meines Lebens treffen muss. Mein Handeln hat Konsequenzen, und um eine Wahl zu treffen, muss ich diesen Konsequenzen eine Bedeutung beimessen.

Realität - im Sinne des naturwissenschaftlichen Weltbildes - und Bedeutung sind für mich zwei Dimensionen des Lebens. Philosophie, Glauben, Spiritualität und Religion verorten das Geschehen in der Dimension der Bedeutung. Jedes Ereignis hat zwei Koordinaten, eine Realitäts-Koordinate und eine Bedeutungs-Koordinate. Sie können einander nicht widersprechen, aber sie haben doch einen Zusammenhang, da sie ja das gleiche Ereignis betreffen.

Was heisst Vernunft?

Wir wollen unser Leben nicht auf Glaubenssätzen aufbauen, die ohne Begründung daherkommen oder deren Begründung wir mit unserem Denken nicht nachvollziehen können. Unser Handeln soll durch unser Denken geleitet werden. Das heisst es, "vernünftig zu leben".

Das Denken zeigt uns, welche Folgen einer Entscheidung wir erwarten. Wenn das unser Handeln leiten soll, dann müssen wir die Folgen bewerten: Welches mögliche Resultat ist gut, welches schlecht? Wir kommen ohne Ethik hier nicht weiter, gerade wenn wir vernünftig handeln und uns nicht nur auf unkontrollierte Gefühle verlassen wollen.

Ethik braucht Voraussetzungen, grundlegende Werte. Welche Werte wir als Grundlage nehmen wollen, müssen wir entscheiden. Es gibt sehr verschiedene Möglichkeiten, wie uns das Denken zeigt.

Die Koordinate der Bedeutung ist grundlegend subjektiv, ich muss meine Entscheidungen und deshalb meine Zumessung von Bedeutung selber verantworten. Aber es ist auch sehr nützlich, darüber nicht nur intensiv nachzudenken, sondern auch nachzuforschen, auszutauschen, sich mit Überliefertem auseinanderzusetzen, aber auch dem Gefühl und der Inspiration Raum zu geben. Das ist für mich der Inhalt des Glaubens. Das Nachdenken darüber, was mir im Leben wichtig ist, hat mich dazu geführt, diesem Glauben eine hohe Priorität einzuräumen.

Glaubst Du noch, dass Vernunft und Denken dem Glauben entgegenstehen?

PS: Glauben gegen das Denken?

Gegenüber von denen, die glauben, Vernunft stehe dem Glauben entgegen, stehen jene, die glauben, das Denken dem Glauben unterordnen zu müssen, weil Gott das verlangt. Ich glaube das nicht, will dies aber hier nicht ausführen. Es kann aus dem Gesagten abgelesen werden, und es ist im zweiten Teil meines folgenden Fazits formuliert.

Fazit
Denkst Du noch, ohne Glauben denken zu können?
Oder glaubst Du noch, ohne Denken glauben zu müssen?

WSt, 25.02.2019